eHealth Arzt mit Laptop und Handy

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„Als wir vor ungefähr dreieinhalb Jahren angefangen haben, war die Grundstimmung noch negativ. Auf Ärztekongressen hieß es zum Beispiel oft, dass Digitalisierung Teufelszeug sei“, sagt Katharina Jünger. Gemeinsam mit ihren beiden Partnern hat sie 2015 die TeleClinic, eine Online-Plattform für ärztliche Telefon- und Videoberatungen, gegründet. „Heute dagegen hat jede Facharztgruppe eine eigene Digitalisierungsabteilung. Auch im Medizinstudium ist das Thema Telemedizin Bestandteil von Vorlesungen. Deswegen stellt sich heute auch nicht mehr die Frage, ob wir die Digitalisierung im Gesundheitsbereich wollen, sondern wie wir sie gestalten können“. Weiteren Rückenwind erhält das EXIST-geförderte Spin-off der Ludwig-Maximilians-Universität München nun mit der Lockerung des Fernbehandlungsverbots, das auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2018 beschlossen wurde.

eHealth nimmt an Fahrt auf

Die Telemedizin ist dabei nicht die einzige Sparte des eHealth-Marktes, auf dem sich zukünftig einiges tun wird. Im Gegenteil: Der Einsatz digitaler Lösungen nimmt insgesamt immer mehr an Fahrt auf und betrifft die gesamte Gesundheitsbranche. Verstärkt wird diese Entwicklung durch entsprechende politische und gesetzgeberische Weichenstellungen. So sieht zum Beispiel der Koalitionsvertrag der Bundesregierung eine Weiterentwicklung des eHealth-Gesetzes vor. Bis zum Jahr 2020 soll außerdem ein Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen und Meilensteinen erarbeitet werden. Unter anderem sollen die Telematikinfrastruktur ausgebaut, die elektronische Patientenakte eingeführt und neue Zulassungswege für digitale Anwendungen geschaffen werden, die Interoperabilität herstellen und die digitale Sicherheit im Gesundheitswesen stärken. Auch die pflegerische Versorgung soll von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren.

Neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen ist nicht zuletzt die IT-Branche selbst ein entscheidender Treiber, der mit seinen digitalen Lösungen sowohl bei den Anbietern medizinischer Leistungen als auch bei Patienten und gesundheitsbewussten Bürgern auf ein immer größeres Interesse stößt. „Künstliche Intelligenz, Big Data Mining, Blockchain, selbstlernende Algorithmen – diese schnellen Entwicklungen im IT-Bereich halten jetzt auch im Gesundheitsbereich Einzug. Hinzu kommt die rasante Entwicklung bei Smartphones und Apps, über die viele dieser IT-Lösungen überhaupt erst den Endkonsumenten, sprich den Patienten, erreichen“, sagt Marco Winzer, Partner beim High-Tech Gründerfonds (HTGF). Dessen Life-Science-Portfolio verzeichnet mit 14 Prozent einen enormen Zuwachs an Investments in eHealth-Start-ups.

Mobile first

Dass vor allem mobile Lösungen zukünftig nachgefragt werden, davon ist Dr. Rüdiger Breitschwerdt, Professor am Institut für eHealth und Management im Gesundheitswesen (IEMG) Hochschule Flensburg überzeugt: „Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Apps, die genau auf die Anforderungen der Nutzer eingehen, sei es zur prä- oder poststationären Behandlung von Patienten, zur Information von Angehörigen oder für gesundheitsbewusste Bürgerinnen und Bürger, die bestimmten Krankheiten vorbeugen möchten.“ Genau hier setzt zum Beispiel das ehemalige EXIST-Team Newsenselab an. Mit seiner Migräne- und Kopfschmerz-App M-Sense unterstützt es Patienten unter anderem mit Hilfe eines Kopfschmerztagebuchs und -kalenders, die Auslöser für Migräne- bzw. Kopfschmerzattacken zu identifizieren. Darauf aufbauend bietet die Anwendung einen individuellen Therapiefahrplan an.

eHealth Stethoskop und Handy

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Großen Wert hat das vierköpfige Newsenselab-Gründungsteam dabei von Anfang an darauf gelegt, dass ihre App nicht als eines der zahllosen Gesundheits- und Wellness-Angebote missverstanden wird. Stefan Greiner, Mitglied des Gründungsteams und Geschäftsführer der 2016 gegründeten Newsenselab GmbH: „Bevor wir die App veröffentlicht haben, haben wir zunächst dafür gesorgt, dass wir uns medizinisch und klinisch seriös aufstellen. Dazu gehörte zum Beispiel die CE-Zertifizierung als Medizinprodukt. Das war zum einen ein wichtiger erster Schritt, um sich in einem stark regulierten Umfeld zu positionieren. Zum anderen hat es für unser Marketing eine wichtige Rolle gespielt, da die Zertifizierung ganz klar für einen hohen Qualitätsstandard steht.“ 

Das hat letztlich auch den High-Tech Gründerfonds und seine Investoren überzeugt, denn so Marco Winzer: „Wir investieren nicht in sogenannte ‚Wellness- und LifeStyle-Apps, die sich ausschließlich an den Endkonsumenten wenden. Für unsere Investitionsentscheidung sind die klinische Validierung und der medizinische Nutzen des Produkts entscheidend. Brauchen die Leute mein Produkt? Passt es zu ihnen und ihren Gewohnheiten? Sind sie bereit, mir als Anbieter einer XY-Lösung zu vertrauen? Was passiert mit den persönlichen Daten der Nutzer?“

Fragen, die das Newsenselab-Team offensichtlich alle beantworten konnte, so dass es im Anschluss an EXIST-Gründerstipendium eine erste Finanzierungsrunde mit High-Tech Gründerfonds sowie weiteren Investoren erfolgreich abschließen konnte.

Herausforderung: regulierter Gesundheitsmarkt

Dabei ist der Gesundheitsmarkt im Vergleich zu anderen Branchen nicht einfach. Im Gegenteil: Er ist hochgradig reguliert. Für viele Gründerinnen und Gründer eine große Herausforderung. Die wenigsten wissen, welche regulatorischen Voraussetzungen sie erfüllen müssen, wie die Zulassung und Klassifizierung ihres Medizinproduktes funktioniert, an welche Institutionen sie sich wenden müssen oder auch unter welchen Bedingungen ihre Leistungen von den Krankenkassen erstattet werden. Stefan Greiner und seine Kollegen von Newsenselab haben daher frühzeitig entsprechendes Know-how eingekauft. „Wir haben uns von Anfang an – zunächst noch mit Unterstützung des EXIST-Coachingbudgets – medizinrechtliche Beratung an Bord geholt, um die ganzen Zertifizierungswege und regulatorischen Einstufungen im Zusammenhang mit dem Unternehmenszweck frühzeitig abzustimmen. Außerdem sind wir relativ früh eine Kooperation mit dem auf digitale Health-Start-ups spezialisierten Investor Flying Health Incubator eingegangen, der uns vor allem im deutschen regulatorischen Umfeld ein großes Stück weitergebracht hat.“

Dabei gibt es im Einzelfall durchaus Teams, die tatsächlich alle Kompetenzen abdecken, um die regulatorischen Herausforderungen zu bewältigen. Ein solcher Einzelfall ist das Gründungsteam der TeleClinic. Dessen Know-how ist für Katharina Jünger ganz klar ein Wettbewerbsvorteil: „Wir decken mit unserem Know-how drei Bereiche ab, die für eine Gründung in der Gesundheitsbranche entscheidend sind. Erstens, den medizinischen Bereich: Ohne Prof. Reinhard Meier hätte uns die Ärzteschaft niemals ein so großes Vertrauen entgegen gebracht. Er hat vor der Gründung der TeleClinic als Oberarzt der Radiologie am Klinikum rechts der Isar der TU München und als leitender Oberarzt der Radiologie am Universitätsklinikum Ulm gearbeitet. Zweitens, den juristischen Bereich: Wenn Sie mit einer innovativen Lösung, wie der Telemedizin einsteigen möchten, geht es um Fragen der Haftung, der Vergütung, der Vertragsgestaltung mit Krankenversicherungen usw. Als Juristin bin ich daher hier genau an der richtigen Stelle. Als dritter Punkt ist der Bereich Datenschutz und Datensicherheit zu nennen. Die Ärzte und Patienten, die unser Angebot nutzen, erwarten ein Höchstmaß an Datenschutz und Datensicherheit. Wenn wir das nicht gewährleistet können, sind wir ganz schnell wieder weg vom Markt. Insofern sind wir sehr froh Patrick Palacín als technischen Co-Gründer mit an Bord zu haben.“

Hinzu komme auch das besondere Gespür, das Gründerinnen und Gründer haben sollten, um in der Kommunikation mit Krankenkassen, Versicherungen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Datenschützern und natürlich der Ärzteschaft und den Patienten zu punkten. Man müsse wissen, dass es gerade im Gesundheitsbereich sehr viele Empfindlichkeiten gibt, sagt Katharina Jünger, Geschäftsführerin der TeleClinic: „Ärzte retten jeden Tag leben. Darauf sind sie natürlich sehr stolz. Genauso wie die Krankenversicherungen, deren Arbeit ebenfalls nicht unterschätzt werden darf. Darauf muss man sich einstellen. Wir treten daher mit dem Selbstverständnis auf, gemeinsam mit allen Akteuren nachhaltig etwas zu verändern und die Digitalisierung in der Branche zum Vorteil aller Beteiligten voranzubringen.“

eHealth Arzt mit Tablet

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Kooperation mit etablierten Partnern

Dass Kliniken sowie etablierte Unternehmen der Gesundheitsbranche sich sehr viel besser mit regulatorischen Prozessen als Start-ups auskennen und dabei auch einen viel längeren Atem haben, ist naheliegend. Um ihr Produkt in der gewünschten Qualität zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, hat das EXIST-geförderte Gründungsteam der GWA Hygiene GmbH daher mit Unterstützung des Klinikums Lüneburg seine Idee bis zur aktuellen Produktreife entwickelt. Die Ausgründung der damaligen Fachhochschule Stralsund (heute: Hochschule) bietet ein Händehygiene-Monitoring an, mit dessen Hilfe Krankenhäuser und andere Einrichtungen genau nachverfolgen können, wie häufig sich bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte, Pfleger, Physiotherapeuten oder Reinigungskräfte die Hände desinfizieren. Aber kommen Kliniken mit ihren knappen Budgets überhaupt als Kunden in Frage? „Ja“, meint Marco Winzer vom High-Tech Gründerfonds. „Sobald eine Lösung präsentiert wird, die interne Prozesse effizienter und effektiver gestaltet, sind die Krankenhäuser sehr wohl bereit, zu investieren. Der Vorteil bei den digitalen Lösungen ist ja, dass die Investitionskosten nicht so hoch sind und daher in der Regel zu den Budgets passen.“ 

Auf starke Partner haben Maik Gronau und seine Gründungspartner übrigens auch beim Thema Vertrieb gesetzt: „Das sind insbesondere Desinfektionsmittelhersteller, die ihren Bestandskunden unser System anbieten. Damit skalieren wir unseren Vertrieb und helfen gleichzeitig den Partnern sich mit einem innovativen Produkt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.“ Sich möglichst früh mit etablierten Partnern zusammenzusetzen, um gemeinsam die Entwicklung und Umsetzung anzugehen sei genau der richtige Weg, rät Prof. Rüdiger Breitschwerdt: „Inkubatoren, wie sie jetzt von Klinikketten oder auch in Medizintechnikunternehmen eingerichtet werden, bieten dabei gute Anknüpfungspunkte.“ Beispiel: Newsenselab: Als Spin-off der Humboldt-Universität hatte das Team den Vorteil, dass sich die potenziellen Anwender der Migräne-App, sprich: Ärzte und Patienten, in unmittelbarer Nähe befanden. „Wir hatten nicht nur einen sehr engen wissenschaftlichen Bezug zur kardiovaskulären Physik an der Humboldt-Universität, sondern von Anfang auch eine klinische Anbindung an die Migräneambulanz der Charité. Das hat sich weiterhin verstetigt, so dass wir jetzt eine klinische Wirksamkeitsstudie unserer App gemeinsam mit der Charité durchführen. Darüber hinaus haben wir rund drei Monate am helios.hub teilgenommen, um unser Feature ‚Arzt-Report‘ zusammen mit der neurologischen Abteilung der Helios-Klinik in Berlin-Buch zu entwickeln. Damit können alle Informationen, die unsere App erhebt, speziell für Ärzte aufbereitet werden.“

Vorbild Pharmamarkt?

Blickt Marco Winzer vom High-Tech Gründerfonds in die Zukunft, kann er sich für eHealth-Start-ups eine ähnliche Entwicklung wie in der Pharmaindustrie vorstellen. „Das heißt, wir brauchen Start-ups, die Impulse geben, die mit hoher Geschwindigkeit digitale Lösungen entwickeln und die medizinisch-klinischen Grundlagen mitliefern. Deren Produkte durch die Regulatorik zu führen und am Markt zu etablieren sollte dann aber die Aufgabe großer Organisationen sein. Ähnlich wie im Pharmabereich. Dort hat sich ein Prozess etabliert, in dem Krankenhäuser, Versicherungen und Unternehmen entweder die Leistungen im Rahmen von Lizenz- und anderen Transaktionsverträgen einkaufen oder die jungen Unternehmen komplett übernehmen.“ Für Start-ups kann das dann zweierlei bedeuten: entweder ein nachhaltig gutes Geschäft oder das gut bezahlte Ende des jungen Unternehmens.