Junge Frau arbeitet an Mikroskop, neben sich eine aufgeschlagene Aktenmappe, im Hintergrund weitere Studenten an Mikroskopen

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In den 80er und 90er Jahren sorgte die Biochemie, insbesondere im Bereich Genetic Engineering, durchaus noch für mediale Aufmerksamkeit – auch was Unternehmensgründungen betraf. Inzwischen ist es aber wieder ruhiger um die Branche geworden. Dabei ist das Innovationspotenzial immens. Hans-Peter Ilgner, Business Angel mit dem Schwerpunkt Chemie und Biotechnologie, nennt einige Beispiele: „Das Thema Energie und Chemie ist mit Sicherheit ein sehr starkes Innovationsfeld. Dazu gehören zum Beispiel Verfahren zur Nutzung von CO2 als Rohstoff, Methoden zur Trinkwassergewinnung, Energiespeicherung oder auch Bio-Liquids als Treibstoffe. Dank neuer Synthesewege sind ganz neuartige Produkte möglich. So ist zum Beispiel der Einsatz von Nanomaterialien, Proteinen, Nukleinsäuren oder anderen Biopolymeren zu therapeutischen Zwecken denkbar. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Chemie und den Ingenieurwissenschaften kann zu disruptiven Geschäftsmodellen im Bereich der modularen Produktionstechnik, Logistik und Energieerzeugung führen. Darüber hinaus bieten die Naturwissenschaften Lösungsansätze für von Menschenhand geschaffene Umweltprobleme. Nehmen Sie zum Beispiel die Belastung der Meere mit Plastikabfällen. Hier könnten neue Verpackungsmaterialien entwickelt werden, die sich im Wasser in unschädliche Bestandteile auflösen. Nicht zuletzt bietet auch die Medizintechnik ein hohes Innovationspotenzial durch die Kombination von medizinischem Know-how und IT.“

Ob Medizin, Biologie, Chemie, Pharmazie oder Agrarwissenschaften: Innovative Ideen sind in den Naturwissenschaften oder auch Lebenswissenschaften bzw. Life Sciences reichlich vorhanden. Dennoch schlagen vergleichsweise wenige Hochschulabsolventen und Wissenschaftler den Karriereweg als Unternehmer ein. Das liegt bekanntermaßen am guten Arbeitsmarkt. Hinzu kommt aber auch, dass die Gründungsvoraussetzungen bzw. die Markteinführung von Produkten oder Verfahren viele der Life-Science-Start-ups vor besondere Herausforderungen stellt. „In den 80er und 90er Jahren war es noch so, dass jeder, der beispielsweise mit Hilfe gentechnisch veränderter Organismen rekombinante Proteine zur therapeutischen Anwendung entwickelt hat, damit den Fuß in der Tür zum Markt hatte. Heutzutage müssen Gründer viel deutlicher nachweisen, dass sich ihre Forschungsergebnisse tatsächlich zu einem innovativen marktfähigen Produkt weiterentwickeln lassen”, sagt Roel Bulthuis, Senior Vice President (leitender Vizepräsident) und Managing Director (Geschäftsführer) bei Merck Ventures.

Herausforderungen für den Unternehmensstart

Dass Gründungen im naturwissenschaftlichen Bereich insbesondere im Vergleich zu vielen IT-Gründungen sehr anspruchsvoll sind, weiß auch Hans-Peter Ilgner, der neben seiner Tätigkeit als Business Angel auch Initiator des ACHEMA-Gründerpreises und Advisor für Start-ups bei der DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e.V. ist. Ein Beispiel für die besonderen Anforderungen an Gründer in den Naturwissenschaften sind für ihn die Rahmenbedingungen und Marktplayer, die mit darüber entscheiden, ob ein Produkt oder Verfahren seinen Weg in den Markt findet: „Wenn Sie zum Beispiel im Bereich der medizinischen Diagnostik ein Produkt auf den Markt bringen möchten, sind Sie auf die Bereitschaft der Krankenkassen angewiesen, diese neue Diagnostikmethode in den Katalog der erstattungsfähigen Leistungen aufzunehmen. Bei solchen Entscheidungen sind die Krankenkassen aber eher zögerlich. Da braucht es aufwändige Studien, um die Krankenkassen von den Kostenvorteilen der neuen Methode zu überzeugen.“

Erfolg-Stufe für Stufe

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Eine weitere Herausforderung stellen die Anforderungen an das Gründungsteam dar. Beispiel: Medizintechnik. „In der Medizintechnik brauche ich große multidisziplinäre Teams. Dazu gehören nicht nur Mediziner, sondern auch Ingenieure für den Gerätebau. Ich brauche jemanden, der mit dem Procedere einer CE-Zulassung vertraut ist sowie Software-Programmierer und natürlich Vertriebler, die sich mit dem Gesundheitssystem auskennen und die Geduld haben, ein ganzes Jahrzehnt bis zum Durchbruch durchzuhalten“, so Hans-Peter Ilgner.

Nicht zuletzt sind die Gründerinnen und Gründer auf eine adäquate Labor- und Produktionsinfrastruktur angewiesen. Denn um innovative Produkte und Verfahren in den Naturwissenschaften bis zur Marktreife zu entwickeln, braucht es oft langjährige Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Genau da setzt ein neues Projekt der Technischen Universität Berlin an, das bundesweit bisher einzigartig ist: Seit Beginn dieses Jahres gibt es auf dem Campus den Inkulab-Laborcontainer für Gründerinnen und Gründer aus den Life-Sciences, der Grünen Chemie und Nanotechnologie. Beim Inkulab handelt es sich um eine voll ausgestattete Labor-Containeranlage, gepaart mit einem Start-up-Inkubationsprogramm. Das Projekt ist am Institut für Chemie der TU Berlin angeschlossen. Unterstützt wird es im Übrigen auch von dem ehemals EXIST-geförderte Start-up DexLeChem GmbH, einer Ausgründung der TU Berlin. Inkulab bietet gründungsinteressierten Absolventen aus den Naturwissenschaften die Möglichkeit, die Laborinfrastruktur zu nutzen und gleichzeitig durch den Inkubationsprozess des Centre for Entrepreneurship der TU Berlin die notwendigen unternehmerischen Kompetenzen zu erwerben. Ralph Langanke hat als Projektleiter den Aufbau des Inkulab begleitet: „Beim Inkulab handelt es sich um ein Allround-Paket für gründungsinteressierte Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler. Grundsätzlich funktioniert das Inkulab wie ein Inkubator, der den anspruchsvollen Gründungsprozess naturwissenschaftlich-orientierter Start-ups beschleunigt.“ Ziel ist es letztlich, die Zahl der Ausgründungen in den Life Sciences damit anzukurbeln.

Der Laborcontainer Inkulab

Das Inkulab auf dem Campus der TU Berlin.

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Genau dieses „Ankurbeln“, sprich: die gezielte Unterstützung von naturwissenschaftlichen Gründungen, ist das, was Hans-Peter Ilgner immer noch an vielen Hochschulen vermisst: „Vielleicht muss sich die eine oder andere Hochschule doch die Frage stellen, ob sie bei der Gründungsförderung den Fokus zu sehr auf Informatik, Ingenieurwissenschaften oder auch die Kreativwirtschaft setzt und die Naturwissenschaften noch zu sehr links liegen lässt? Angesichts des großen Innovationspotenzials ist da noch viel Luft nach oben. Von daher würde ich mir wünschen, dass in den naturwissenschaftlichen Fakultäten wesentlich mehr als bisher für das Thema Unternehmensgründung geworben wird und die Gründungsberatung auch das Wissen um das Funktionieren der Ziel- und Wettbewerbsindustrie umfasst. Sei es die Frage nach Zertifizierungen, Patentanmeldungen oder auch die Vermittlung zu potenziellen Kunden und Kooperationspartner aus der Industrie.“

Ausbaufähig und unverzichtbar: Unterstützung durch Industrie

Die gute Nachricht ist: Gründer und junge Unternehmen haben Zugriff auf ein umfangreiches Fördergelder von Bund, Ländern und EU: Förderdarlehen, Beteiligungen durch öffentlich geförderte Kapitalfonds, Bürgschaften. Im internationalen Vergleichen wie zum Beispiel dem Global Entrepreneurship Monitor sammelt Deutschland für seine gute Förderinfrastruktur immer wieder Pluspunkte. „Die Finanzierung durch die öffentliche Hand und private-public-finanzierte Fonds ist in den ersten drei bis vier Jahren für Naturwissenschaftler gut geregelt“, findet auch Hans-Peter Ilgner. Seiner Erfahrung nach ist es damit aber nicht getan: „Es fehlt ein entscheidender Player: Die deutsche Industrie. Es fehlt an operativer Unterstützung, die den Gründern zeigt, worauf es bei der praktischen Anwendung des Produkts wirklich ankommt. Und es fehlt an langfristigem Geld für die Markteintrittsphase Kurzum: Es ist an der Zeit, aus den vielen Bausteinen zur Förderung naturwissenschaftlicher Gründungen eine durchgängige PPP Wertschöpfungskette zu bauen, die den von vielen Zufällen geprägten Prozess durch ein transparentes System ersetzt“, wünscht sich Hans-Peter Ilgner. Auch eine Studie im Auftrag des Verbands der Chemischen Industries aus dem Jahr 2015 kommt zu dem Schluss, dass Deutschland bezüglich der Investitionskultur, vor allem bei der Bereitstellung von Wagniskapital, nicht auf der Höhe der Zeit ist.

Mann und Frau stehen vor einem Whiteboard und betrachten eine Mindmap

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Dass die chemische Industrie eher zurückhaltend auf Start-ups reagiert, hat auch Nicole Ziesche vom Centre for Entrepreneurship an der TU Berlin und dort zuständig für die Gründungsberatung der Inkulab-Teilnehmer beobachtet. Doch sie ist optimistisch: „Ich habe den Eindruck, dass sich das gerade ändert. Da gibt es neuen Schwung. Wir waren im letzten Jahr zum Beispiel auf der Jahrestagung der Deutschen Chemieindustrie und haben deutlich gespürt, dass man da in Sachen Start-ups aktiver werden und an Fahrt gewinnen möchte.“

Zielgruppe Naturwissenschaftler: Matchings und Wettbewerbe

Für den notwendigen Rückenwind sorgen dabei Veranstaltungen wie zum Beispiel der ChemiePitchDay, den der High-Tech Gründerfonds (HTGF) in 2016 und 2017 durchgeführt hat. Jeweils acht Teams erhielten dabei die Möglichkeit, vor privaten Investoren und international agierenden Chemiekonzernen ihre Gründungsideen und Geschäftsmodelle zu präsentieren. Ein anderes Beispiel ist der European Chemistry Partnering in Frankfurt am Main, der in diesem Jahr zum ersten Mail stattfand und kleinen und mittelständischen Chemieunternehmen sowie Start-ups die Chance bot, über 60 Industrievertreter und Investoren zu treffen.

Bewährt haben sich auch der bundesweite Businessplan-Wettbewerb „Science4Life Venture Cup“ und der im 2015 erstmalig ausgetragene ACHEMA-Gründerpreis für Gründerinnen und Gründer in den Bereichen Chemie, Verfahrenstechnik oder Biotechnologie sowie die Gründungsoffensive Biotechnologie GO-Bio. Neben Preisgeldern, kostenfreien Messeständen und Unterstützung bei der Gründung, sorgen sie für Kontakte zu Kapitalgebern und potenziellen Kunden.

Und nicht zu vergessen der German Accelerator Life Sciences (GALS). Das Bundeswirtschaftsministerium unterstützt damit deutsche Start-ups sowie junge Unternehmerinnen und Unternehmen mit Fokus auf Digital Health, Diagnostik, Forschungsreagenzien, Medizintechnik, Plattformtechnologien und Therapeutika. Sie können im größten Life Sciences Cluster in Boston/Cambridge, USA mehrere Monate lang ihre Geschäftsidee, Produkte und Dienstleistungen auf dem U.S.-amerikanischen Markt testen und weiterentwickeln. Zudem bietet der GALS den Unternehmen Kontakte zu potenziellen Kunden, Mitarbeitern, strategischen Partnern und Investoren.

International aufgestellt: VC-Fonds der Großindustrie

Immerhin: In den letzten Jahren haben ausgewählte Schwergewichte der deutschen Chemie- und Medizinindustrie VC Fonds aufgelegt, um Start-ups Beteiligungskapital, Kontakte und Know-how zur Verfügung zu stellen. BASF Venture Capital gehört dazu, genauso wie Henkel Ventures, Fresenius Medical Care Ventures oder auch Merck Ventures. Der Darmstädter Pharmakonzern Merck unterstützt mit seinem 300 Millionen Euro ausgestattetem VC-Fonds hochinnovative Start-ups in der Frühphase. Roel Bulthuis Senior Vice President und Managing Director bei Merck Ventures: „Chemie, Biologie und Technology, wie beispielsweise Biotech, Digitaltech oder neue Materialien sind für Merck sehr interessante Geschäftsfelder. Aus diesem Grund haben wir Merck Ventures 2009 ins Leben gerufen, um Spinoffs aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen frühzeitig zu unterstützen. Das bedeutet, wir bieten sowohl Venture Capital als auch unternehmerisches Know-how an, sei es für die Businessplanung oder Marketing- und Produktentwicklung oder bei strategischen Ausrichtung des zukünftigen Unternehmens.”

Teil der Weltkarte auf Bildschirm

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Vier Investmentteams in Europa, den USA und Israel stehen für Start-ups in den Bereichen Healthcare, Life Science und Performance Materials (Werkstoffe) sowie New Businesses, wie z.B. Digitalisierung zur Verfügung. Entscheidend für ein Investment ist eine hoch-innovative Idee, die sich zu einem tragfähigem Geschäftskonzept weiterentwickeln lässt. Das ist leicht gesagt. Dahinter verbirgt sich allerdings ein umfangreiches und aufwändiges Bewerbungsverfahren, wobei am Ende für den einen oder anderen eine bittere Erkenntnis steht: “Wir haben immer wieder mit hervorragenden Wissenschaftlern zu tun, deren Forschungsergebnisse im Labor funktionieren. Die Bewerber gehen daher davon aus, dass sich daraus auch ein erfolgreiches, marktfähiges Produkt herstellen lässt. Aber diese Schlussfolgerung ist leider keineswegs immer automatisch richtig”, so die Erfahrung von Roel Bulthuis.

Seit seinem Start hat sich Merck Ventures an 29 Start-ups beteiligt, darunter drei Unternehmen aus Deutschland: iOmx aus Martinsried bei München, das ein Verfahren zur Turmoridentifikation entwickelt hat; VAXIMM, ein schweizerisch-deutsches Unternehmen, das mit Immuntherapien für Krebspatienten auf den Markt geht sowie ein Spin-off der TU Darmstadt.

Unabhängig von seinem VC-Fonds bietet der Pharmakonzern zweimal im Jahr ein dreimonatiges Accelerator-Programm an. Daran teilgenommen haben unter anderem auch die beiden EXIST-geförderten Start-ups ATR Elements aus München und Inuru aus Berlin. Ziel ist eine mittel- bis langfristige Zusammenarbeit mit Merck.

„Da ist noch mehr drin“

„Alles schön und gut“, sagt Hans-Peter Ilgner. Aber unter dem Strich müsse noch viel mehr getan werden. „Denkbar ist zum Beispiel der Einsatz von Industrie-Coaches, die nicht nur Kontakte zur Großindustrie, sondern auch zu den vielen Mittelständlern haben und den Gründerinnen und Gründern den Zugang zu geeigneten Unternehmen ermöglichen.“ Handlungsbedarf sieht der Business Angel aber vor allem in der Schaffung eines durchgängigen Prozesses, der die kontinuierliche Zusammenarbeit von staatlicher und industrieller Wagniskapital- und operativer Gründungsförderung ermöglicht. „Auch wenn EXIST, GoBio, HTGF, German Accelerator, Inkubatoren und Akzeleratoren einzelner Unternehmen und der INVEST-Zuschuss wichtige Schritte in die richtige Richtung sind, würde ich mir weitere Anreize wünschen, um insbesondere die chemische und verwandte Industrie für eine unternehmensübergreifende operative und langfristige finanzielle Unterstützung von Start-ups zu motivieren. Nur so bekommen wir in Deutschland den notwendigen Schwung, um das Innovationspotenzial, das in den Naturwissenschaften schlummert, zu heben. Geld alleine kann den Stau nicht auflösen.“